Der Herr des Bogens
Mit überlegenen Schusswaffen bezwangen die Mandschuren einst China. Meister Yang Fuxi bewahrt eine alte Kunst
Bernhard Bartsch- berlinonline.de
Language: German
PEKING. Verantwortung vor der Geschichte, das ist für Yang Fuxi eine Portion Schweinekleber. Dafür nimmt er zehn Kilo Schweinehaut, wäscht sie, kocht sie, rupft einzeln alle Härchen aus, rasiert zur Sicherheit nochmal drüber. Dann weicht sie in einem großen Topf solange über Wasserdampf, bis Yang sie mit einem Stößel zerdrücken kann. Den Matsch kocht er auf, presst ihn durch ein Sieb und lässt ihn abkühlen. Die zähe Masse schneidet er in dünne Streifen und hängt sie zum Trocknen auf die Leine.
"Das ist wie Fertigkleber", erklärt der 50-Jährige. "Man muss die Stückchen bloß aufkochen - schon kann man sie benutzen." Knapp eine Woche verbringt Yang mit der Prozedur, und das drei bis viermal im Jahr, aber Schweinekleber muss sein, genau wie Büffelhörner und Haifischhaut. "Würde ich das nicht mehr auf die alte Art machen, täte es niemand mehr", sagt Yang. Es ist nicht leicht, der Letzte seiner Art zu sein: der letzte Pfeil- und Bogenhersteller der Mandschu.
Die altmodischen Waffen, die Yang in seiner Werkstatt am Stadtrand von Peking herstellt, sind in der chinesischen Geschichte ein nicht ganz unbedeutendes Requisit. Sie haben zwei Weltreiche zu Fall gebracht. 1644 überwand das nordostasiatische Nomadenvolk die chinesische Mauer und stürzte die Ming-Dynastie. Deren als unbezwingbar geltende Armee war der Mandschu-Artillerie hilflos ausgeliefert. Mit ihren für die Bären- und Tigerjagd entwickelten Bögen konnten sie bis auf 80 Meter töten, deutlich weiter als die Chinesen. Gestützt auf die Macht ihrer Waffen gründeten die Mandschu ihre Dynastie, die sie "Qing", "Große Klarheit", nannten und die dem Kaiserreich seine letzte Blüte bescherte - bis an den Küsten westliche Kanonenbote auftauchten. Die konnten noch weiter schießen.
Für die Rüstungsindustrie waren Mandschuwaffen damit passé, doch in Yangs Familie, die einst die kaiserliche Waffenmanufaktur Juyuanhao betrieb, hat das Kriegshandwerk überlebt. Die Vorbestellungszeit ist ähnlich lang wie für Panzer oder Atom-U-Boote. "Ich bin über ein Jahr im Voraus ausgebucht", sagt Yang. "Mehr als vier oder fünf Bögen schaffe ich im Monat nicht. Qualität braucht Zeit."
Was die Güte der bis zu 1,90 Meter großen Bögen ausmacht, sieht man ihnen nicht gleich an. Sie sind wahlweise mit Schlangenhaut oder Birkenrinde umwickelt, bunt bemalt und am Griff mit einem Polster aus Haifischhaut bespannt, dem "abriebfestesten Material der Welt", wie Yang erklärt. Der eigentliche Clou ist jedoch unter der Oberfläche verborgen. Die Spannkraft des Bogens entsteht nicht durch Holz, sondern durch Büffelhorn. "Das war die geniale Erfindung unserer Vorfahren", sagt Yang. "Horn hat nämlich dreimal so viel Wucht wie Holz." Knapp einen Meter wird die Kopfwaffe der Wasserbüffel lang. Wenn sie entsprechend gebogen sind, kann Yang daraus schmale Streifen sägen, die genau den Schwung einer Bogenhälfte haben. In mühsamer Handarbeit feilt er sie auf die richtige Dicke und klebt zwei Teile mit seinem Schweinekleber in einen Holzschaft. "Das hält hundert Jahre", versichert Yang. Umgerechnet 800 Euro verlangt er dafür, und obwohl Sportschützen heute Kunststoffbögen benutzen, die leichter und präziser sind, hält er seine Produkte für wettbewerbsfähig. "Moderne Bögen sind dafür gemacht, um aus dem Stand auf unbewegliche Ziele zu schießen", sagt Yang. "Mit meinen Bögen kann man dagegen richtig auf die Jagd gehen, und einige meiner Kunden tun das auch."
Der Bewahrer der nomadischen Waffentradition versteht es sich zu vermarkten. Von Chinas Regierung hat er Juyuanhao als Kulturerbe registrieren lassen. Liebhabern aus aller Welt verkauft er seine Bögen auch über das Internet. Für seine Kunden putzt er sich heraus, als sei er einem Historienfilm entsprungen: in traditionellen Gewändern und Reitstiefeln, mit wehender Mähne, langem Bart. Als wäre das Reich der Qing nie untergegangen.
Dabei hat Yang das kulturelle Erbe erst vor zehn Jahren angetreten. Zuvor war er Taxifahrer und hätte nie gedacht, dass er einmal von der Geschichte in die Pflicht genommen werden würde. Zumal die Bogenherstellung für seine Familie nicht immer ruhmvoll gewesen ist. Seit zehn Generationen arbeiten die Yangs für Juyuanhao, doch die längste Zeit davon waren sie nur Angestellte, ohne Kontakt zur kaiserlichen Garde. Der Traum, selbst Herr zu sein, muss stark gewesen sein, denn als die Besitzer, wie viele am Hof, dem Opium verfielen und Rechnungen nicht mehr begleichen konnten, lieh Yangs Großvater sich 40 Silberdollar und kaufte ihnen das Geschäft ab.
Das war 1905 - kein günstiger Zeitpunkt, um in eine Bogenmanufaktur zu investieren, die sich als Waffenschmiede verstand. "Mein Großvater bekam noch eine letzte Bestellung an Zeremonialbögen, dann war es vorbei", erzählt Yang. Der Bürgerkrieg, in dem China nach Zerfall des Kaiserreichs 1911 versank, wurde mit modernen Feuerwaffen ausgetragen, nicht mit Pfeil und Bogen. Zwar hielt sich Juyuanhao als Kuriosität über Wasser und wurde nach Gründung der Volksrepublik 1949 in den volkseigenen Betrieb der Sportgerätehersteller aufgenommen. Doch Yangs Vater, der das Handwerk als Kind gelernt hatte, gab es 1958 auf und wurde Ausbesserungsschreiner beim Pekinger Wasseramt.
"Erst nach der Pensionierung hat er sich wieder an die alten Bögen im Schrank erinnert", erzählt Yang. Das war in den 1990ern, China war schon mehrere Revolutionen weiter. Yang, der als Arbeiter in einer Chemiefabrik angefangen hatte, fuhr Taxi, doch das erhoffte Geld blieb aus. Als 1998 ein Gesetz in Kraft trat, wonach Fahrer nur noch Schichten von maximal zwölf Stunden fahren durften, gab Yang auf; es lohnte sich nicht mehr. Dann dachte er, dass sich vielleicht aus den Bögen etwas machen ließe. "Mein Vater war damals 69 und der letzte, der das Handwerk noch beherrschte", sagt Yang, "und weil den ganzen Tag vor dem Fernseher zu sitzen nichts für mich war, bin ich bei ihm in die Lehre gegangen."
Fünf Jahre habe er gebraucht, um alle Handgriffe zu lernen, sagt er. Das war gerade die Zeit, die sein Vater noch hatte. Dass Juyuanhao 2006 erstmals seit Ende des Kaiserreichs wieder einen Laden eröffnete, erlebte er nicht mehr. Yang arbeitet dort mit zwei Lehrlingen daran, die Tradition in die nächste Generation zu retten. Sehr optimistisch ist er nicht. Zwar würde sein Sohn gern das Geschäft übernehmen, doch für mühselige Handarbeit zeigt er kein Interesse. Auch die Gesellen bleiben nicht lange. "Die meisten schauen es sich ein paar Monate an, dann machen sie einen eigenen Laden auf", sagt er. Dort sehen die Bögen zwar ähnlich aus, aber unter der Schlangenhaut steckt schlichtes Holz, verklebt mit handelsüblichem Leim. "Wie kann man vor der Geschichte nur so wenig Respekt haben", klagt Yang und schüttelt seine Mähne. Sie ist frisch gewaschen und geföhnt: Obwohl Yang noch Schweinekleber benutzt - riechen will er nicht danach.
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Barbaren auf dem Kaiserthron
Herkunft: Die Mandschu sind ein ursprünglich halbnomadisches Volk aus Nordostasien, der Mandschurei.
Vorstoß: 1644 überwanden die Mandschu die Chinesische Mauer, stürzten die Ming-Dynastie und bestiegen selbst den Thron. Ihre "Qing"-Dynastie war die letzte des chinesischen Kaiserreichs, das 1911 zerbrach.
Gegenwart: Rund zehn Millionen Mandschu leben in der Volksrepublik - die drittgrößte Ethnie. Sie sind stark mit Han-Chinesen vermischt, pflegen aber teils ihre mit dem Mongolischen verwandte Sprache.
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Foto: Der chinesische Bogenhersteller Yang Fuxi (l.) und sein Produkt - auf dem chinesischen Bild rechts in der Hand eines Mandschu-Kriegers in historischer Tracht. Den Chinesen galten die Mandschu früher als Barbaren, die außerhalb der Großen Mauer lebten.